Mannheim
Ich bin heute in Mannheim. Gestern habe ich mich von Marco und Frederic in München verabschiedet und bin weiter nach Mannheim gefahren, was ja quasi auf dem Rückweg nach Paris liegt. Aber warum Mannheim? Mannheim ist die Stadt, in der ich damals studiert habe. Nach meinem französischen Abi habe ich mir ein paar Studiengänge überlegt, bei denen ich meine Deutschkenntnisse weiterentwickeln könnte. Klar, ich hatte mehrere Universitäten im Kopf, aber am Ende wollte nur eine mich wirklich haben. Zum Glück war das keine schlechte Wahl. Zugegeben, ich habe mich auch nur bei ziemlich wettbewerbsstarken Studiengängen beworben.
Drei Jahre zuvor, als ich an die Internationale Schule in Grenoble kam, fand ich mich in einer deutschen Klasse– umgeben von Leuten, die meiner Meinung nach schon fließend Deutsch sprachen. Das war natürlich nicht der Fall, ich war nur schlechter als sie. Und nach der B2-C1-Prüfung, die wir alle machen mussten, war ich, objektiv betrachtet, tatsächlich der Schlechteste. Ich war nicht gerade stolz darauf, der Einzige zu sein, der die Prüfung nicht bestanden hatte.
„Ich habe gute Nachrichten für euch! Ihr habt alle die B2-C1-Prüfung bestanden! Nur einer hat es nicht geschafft, aber er weiß es schon.“ So verkündete es Frau Schaeffer vor der ganzen Klasse.
Wer hätte damals gedacht, dass ich heute hier sitze und nun auf Deutsch schreibe? Ich zumindest nicht.
Gerade bin ich bei Romy zu Hause in Mannheim. Es fühlt sich hier fast wie ein zweites Zuhause an, nicht nur, weil sie seit 2018 immer noch dieselbe Wohnung in Mannheim hat, sondern auch, weil ich hier schon so oft übernachtet habe. Romys „Wohnung-Starter-Pack“ umfasst Alexa, die in der Küche Popmusik abspielt, dimmbare Lichter und abends Kerzen, jede Menge Pflanzen und einen Staubsauger-Roboter, der meiner Meinung nach nicht so wirklich funktioniert. Mehr brauche ich nicht, um mich wohlzufühlen. Außerdem wohnt sie super zentral, und die Wohnung hat viel Licht – das ist auch ein echter Pluspunkt. Damals habe ich immer die Fitness-First-Karte von ihrem Bruder Philip ausgeliehen, damit wir mit Romy gemeinsam die Sauna und das kleine Schwimmbad im Q7 genießen konnten. Sport haben wir da nie gemacht, für uns war Entspannung wichtiger.
Im Sommer 2017 habe ich auch oft eine Sauna in Deutschland genossen. Allerdings nicht in Mannheim, sondern in Nebel auf Amrum. Als mein Vater in Aix-en-Provence studierte, hatte er einen coolen deutschen Kumpel, mit dem er alles unternahm. So ähnlich wie Romy und ich, nur dass mein Vater dadurch nie Deutsch gelernt hat. Mittlerweile spreche ich mit Romy fast nur noch Deutsch. Der coole deutsche Kumpel meines Vaters hieß übrigens Philipp. Heute ist er Geschäftsführer in Hamburg, hat vier Kinder und eine Frau.
Als ich meinen Eltern sagte, dass ich mein Deutsch verbessern wollte, haben sie sofort an Philipp gedacht. Sie schrieben ihm eine E-Mail, und im nächsten Sommer war ich auf Amrum. Mein Vater hatte zuvor Rosetta Stone illegal auf meinen Laptop geladen, und ich habe versucht, ein bisschen was zu lernen. Aber so richtig angefangen habe ich erst auf Amrum. Ich habe den Kurs tatsächlich bis zum Ende durchgezogen. Naja, am Ende habe ich nur noch die Aussprache-Übungen gemacht, weil es sonst zu lange gedauert hätte, auch noch das Schreiben und die Grammatik für jedes Niveau zu üben. Zum Glück sind Schreiben und Grammatik heute mit ChatGPT nicht mehr so wichtig. Vokabeln zu kennen und sich gut ausdrücken zu können, ist viel entscheidender.
Im Nachhinein war es eine gute Idee, dass ich mich so stark auf die Aussprache fokussiert habe. Ich wollte unbedingt das gesamte Vokabular einmal durchgehen, richtig aussprechen und wiederholen. Man vergisst schnell, wie viel man beim Sprachenlernen wiederholen muss, um Fortschritte zu machen. Egal ob es um Satzstrukturen geht – man muss alles so oft wiederholen, bis die Worte, Gedanken und die Aussprache zu einem Teil von einem werden.
Ich lag oft nach der Sauna im Keller, machte meine Rosetta-Stone-Übungen, hörte die Satzstrukturen an und wiederholte sie, während ich mir die schönen Bilder anschaute. Auf dem riesigen Laptop meiner Mutter sah das schon beeindruckend aus. Solche großen Laptops gibt’s heute nicht mehr. Er war allerdings auch echt schwer. Meine Freunde in Mannheim nannten ihn „das Monster“. Zum Glück habe ich ihn mittlerweile gegen ein MacBook Air eingetauscht, mit dem ich gerade diese Zeilen tippe.
Das war auf jeden Fall eine besondere Zeit: Nebel, Amrum, das „Monster“, Rosetta Stone, 17 Jahre alt, Gasteltern, mit denen ich ordentlich Eierlikör mit Vanilleeis essen und tollen Wein im Restaurant probieren konnte. Meine Eltern waren nicht dabei. Sie kamen erst in der letzten Woche des Sommers mit meinem Bruder und meiner Schwester, und bis dahin war mein Deutsch schon ziemlich flüssig. Es war beeindruckend, wie viel Fortschritt ich in so kurzer Zeit gemacht hatte.
Im September 2017, zurück an der Internationalen Schule in Grenoble, war mein Deutsch-Niveau plötzlich besser als das meiner Mitschüler. Es war nun hoch genug, um es nicht so leicht wieder zu verlieren. Ein paar Monate später habe ich dann tatsächlich das B2-C1-Diplom bestanden. Es war auch mein letztes Schuljahr vor dem Abi, und die Zeit, in der wir uns für Universitäten beworben haben. Mir wurde klar, dass Deutsch das Einzige war, was mich wirklich von den anderen abhob. Deutsch gilt in Frankreich ein bisschen als Elitesprache. Die meisten Schüler wählen lieber Spanisch, weil es einfacher ist und sie so bessere Noten bekommen, um sich eine „Mention Très Bien“ (1,0) im Abi zu sichern. Die, die Deutsch wählen, sind oft von ehrgeizigen Eltern gedrängt worden, um in einer besseren Klasse zu landen. Meine Eltern hatten für mich noch ein anderes Argument: „Du sprichst doch Englisch, das ist fast so nah an Deutsch, wie Französisch an Spanisch!“ Das war natürlich eine große Lüge.
Aber ich sage oft, dass meine Fähigkeit, Deutsch gut auszusprechen, vielleicht daher kommt, dass ich schon mit drei Jahren Französisch zu Hause, Englisch in der Schule und mit meinen Freunden sprach, und sogar ein paar Wörter auf Thai aussprechen konnte. Ich glaube wirklich, dass diese früh entwickelte Aussprachevielfalt mir hilft, die Betonungen in verschiedenen Sprachen zu erkennen und richtig auszusprechen.
2018 wurde ich an der Universität Paris-Dauphine angenommen und entschied mich für den deutsch-französischen Studiengang. Innerhalb von drei Jahren würde ich drei Semester in Mannheim studieren, bevor ich zur Mitte des zweiten Jahres nach Paris umziehen würde, um dort die letzten drei Semester zu absolvieren. Alle Vorlesungen waren auf Englisch, aber das Studium war dual, also eine Art Doppeldiplom in internationaler BWL zwischen der Dauphine-Universität in Paris und der DHBW in Mannheim.
Für den Unternehmensanteil des Studiums habe ich mir ein deutsches Unternehmen gesucht. Das war in Bochum. Alle drei Monate hatte ich also auch eine neue Wohnung in Bochum für die Praxisphasen. Das ständige Hin- und Herreisen war zwar anstrengend, aber wenn ich mich nicht für ein deutsches Unternehmen entschieden hätte, das mich auch haben wollte, würde ich heute nicht so gut Deutsch sprechen.
Jetzt bin ich in Mannheim, wo ich damals studiert und gelebt habe. Romy hat natürlich entspannte Musik laufen, und draußen regnet es ordentlich. Wir haben beschlossen, erst einen Spaziergang zu machen, anstatt den Sonntag schon früh morgens mit einem Film zu beginnen. Fabian, Romys Freund, ist auch da. Er beschäftigt sich gerade mit den Puzzleteilen, die Romy auf dem Tisch ausgebreitet hat. Romy meinte, das hilft ihr, den Kopf freizubekommen. Gerade ist sie aber mit ihrem Handy beschäftigt, und das Buch, das halb offen auf ihrem Schoß liegt, konnte sie auch nicht wirklich davon abhalten.
Romy und ich sind uns da ziemlich ähnlich. Manchmal sind wir präsent, ohne wirklich da zu sein. Wir können zusammen sein, ohne viel zu reden. Wir unterhalten uns, auch wenn wir beide wissen, dass wir nicht wirklich zuhören. Aber das ist okay. Wir wissen das und nehmen es nicht übel. Das ist auch das Schöne daran. Alles ist easy. Ich mache eben gerade mein eigenes Ding – ich schreibe.
Damals habe ich im CSH in Mannheim gewohnt, dem Curt-Sanding-Haus, einem ziemlich internationalen Studentenwohnheim. Es gibt das Gebäude aber nicht mehr, es wurde abgerissen. Ich habe es nicht miterlebt, aber wenn ich daran denke, überkommt mich schon ein bisschen Nostalgie. Ich werde nie wieder mein Zimmer im siebten Stock besuchen können. Die Leute, die dort damals wohnten, sind natürlich längst weg. Ich habe oft aus dem Fenster geschaut, auf die Autobahn, und über mein Leben nachgedacht, besonders abends, wenn die Straßenlaternen angingen.
Montagabend fahre ich zurück nach Paris. Wir machen am Montag noch einen Coworking-Tag bei Romy zu Hause, und abends geht’s dann los. Mannheim ist viel näher an Paris als München. Es gibt einen direkten Zug von Mannheim nach Paris, der nur drei Stunden braucht. Romy war gefühlt öfter spontan bei mir in Paris als ich bei ihr in Mannheim, aber wir wissen, dass es immer spontan klappen kann. Diesmal habe ich ihr am Tag vorher Bescheid gesagt, dass ich nach Mannheim komme.
Sie hat mich mit ihrem Mini-Cabrio abgeholt, laut Popmusik an und gute Laune, und wir sind am Wasserturm vorbei Richtung Innenstadt gefahren, wo sie wohnt. Obwohl ich schon ziemlich kaputt war, habe ich mich abends noch aufgerafft, um ein Bananenweizen zu trinken und mich vom Alkohol dazu überreden zu lassen, dass wir doch noch ins Hafer 49 gehen konnten, wo Romy uns Plätze auf der Gästeliste organisiert hatte.
Als ich ein bisschen angetrunken war, fühlte ich mich viel besser, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich dort eigentlich sollte. Ich bin kein großer Tänzer, und es gab auch niemanden, mit dem ich die Nacht verbringen wollte. Die Stimmung war trotzdem gut, besonders, als wir uns von der Menge zurückzogen und uns in die Strandkörbe am Ufer des Verbindungskanals am Neckar setzten.
Sobald ich saß, war es wirklich angenehm, und Pam, Romys Freundin, die als Videografin arbeitet und uns auf die Gästeliste gesetzt hatte, kam auch noch zu uns. Es war schön, mit ihr zu quatschen, aber noch schöner war es, als wir um 22 Uhr nach Hause liefen und auf dem Rückweg im Jungbusch-Viertel bei Chef Döner einen Kalbfleisch-Döner mitnahmen.
Zu Hause hat Romy uns dann Tiramisu serviert, das sie extra vor meiner Ankunft vorbereitet hatte. Sie war stolz darauf, das Schoko-Tiramisu-Rezept ausprobiert zu haben, dass ich ihr letztes Mal per WhatsApp geschickt hatte. Fabian kam auch noch dazu. Wir haben uns alle 2018 in Mannheim im Doppelabschlussprogramm kennengelernt. Später habe ich ziemlich gut auf Romys neuem, dunkelgrünen Vintage-Sofa geschlafen.